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Moving Waters

16. Mai - 29. September 2019

Im magischen Mikrokosmos

Moving Waters von Anna Bogouchevskaia

 

„Thales lehrte, der Ursprung aller Dinge sei das Wasser.“

– Diogenes Laertios: I, 27

 

„Frühmorgens auf einer Wiese, irgendwo auf dieser Erde. Doch in dieser Wiese verbirgt sich eine andere Welt, groß wie ein Planet. Wilde Gräser werden zu undurchdringlichem Dschungel. Steine wachsen zu Bergen an. Und selbst das kleinste Wasserloch verwandelt sich in einen Ozean. Der Lauf der Zeit erhält andere Dimensionen. Eine Stunde wird zu einem Tag, ein Tag zu einer Jahreszeit. Und eine Jahreszeit dauert so lang wie ein Leben.“

 

Mit diesen Worten beginnt der französische Dokumentarfilm „Microcosmos – Le peuple de l‘herbe“ von 1996. Er führt den Zuschauer in einen Raum und eine Zeit, die sich unterhalb der menschlichen Wahrnehmung befinden und sich ihren Kategorien entziehen. Wir verfolgen die kleinen Wesen dieser Welt, Käfer, Raupen, Bienen, wie Hauptdarsteller, die in den dramatischen Prozessen und Abläufen ihres Überlebens verstrickt sind.

Als Regen aufzieht wird ein neuer Akt eröffnet im Drama des im Universum des Kleinen geschilderten Tages. Wir sehen einzelne Regentropfen in die Wasseroberfläche     eines Sees einschlagen. Es ist der Gestaltzyklus einer einzigartigen Form, einer radikal verlangsamten Verwandlung: vom vertiefenden Einschlag zum rückstoßartigen Aufsteigen einer Wassersäule, in unendlicher Variation und Vielfalt, wobei die in dieser Vergrößerung straff gespannten Oberflächen des Wassers eine unwirkliche, perfekte Schönheit erzeugen. Die Produktion des Films hat zehn Jahre gedauert und bedurfte einer speziell entwickelten Kamera, die auf winzigste Bewegungen von einem Zehntelmillimeter per Motion Control programmiert werden konnte.

 

Die Bilder dieses Films waren für Anna Bogouchevskaia der erste Anstoß, sich mit dem Mikrokosmos der „Tropfen“ zu befassen und sich ihn bildhauerisch zu eigen zu machen. Sie wollte dem, was „nur eine Sekunde, eine Drittelsekunde existiert, eine Form geben“. Ihre neuen, hochreliefartigen Skulpturen nehmen den Betrachter mit  in die fremde, mikroskopisch vergrößerte Formenwelt der Wasserflächen. Aus dieser gleichmäßig strukturierten Fläche ragen vielfältige Figuren, jeweils eingefasst durch konzentrische Wellenmuster, die verschiedene Stadien jenes Bewegungsablaufs einfangen, der beginnt, wenn ein Tropfen auf die Wasseroberfläche trifft: Von einer kranzartigen Blüte mit weich gezacktem Rand über kleine und größere Kegel bis zu höher aufragenden Säulen mit kugelförmigen Tropfen als Köpfen.

In ihrer Abstraktion eröffnen sie einen weiten Assoziationsraum, lassen an das Auf- und Verblühen von Blumen denken oder an Spielfiguren eines Brettspiels. Zugleich machen sie aber auch das Element Wasser unmittelbar als ein lebendiges erlebbar, nicht zuletzt durch den silbrigen, metallischen Glanz, den das Aluminium erzeugt. Denn die komplexen Lichtreflexionen bilden das Schillern einer vom Regen bewegten Wasserfläche nach und rufen die Sinnlichkeit wach, die der Mensch im Kontakt mit dem Urelement Wasser erfahren kann.

Allerdings ist die Wahl des Aluminiums auch der Notwendigkeit geschuldet, ein Material mit anderen statischen Eigenschaften als die der schweren Bronze zu wählen, um die komplexen und filigranen Formen vor allem der Wassersäulen technisch realisieren zu können.

 

Die Sinnlichkeit des Wassers bildet aber auch eine Brücke zu Bogouchevskaias früheren Werken, zum Beispiel zu der Werkserie „Im Wasser“. In Werken wie „Große Welle“ und „Schwimmer“ (beide 2002) wird das Wasser in rechteckigen Blöcken nachgebildet, dessen Macht und Präsenz sich die puttohaften Figuren hingeben.  Die humorvoll gezeigte Expressivität spiegelt für den Betrachter gleichsam die Intensität des Erlebnisses wider und die besondere Farblichkeit der Patina evoziert zusätzlich das Meer und die Kraft der Wellen. Und aus den hohen Blöcken, in denen der „Schwimmer“ und die Badenden der „Wellen“-Skulpturen versunken sind, ist bei den „Tropfen“ eine Reihe von Platten geworden, die die Erforschung der Oberfäche ermöglichen.

 

Aber noch ein anderes Motiv, das Bogouchevskaia immer wieder anzieht, findet sich in Moving Waters: Eine Gruppe Fische, die in verschiedenen Höhen aufeinander zuschwimmen und die den überraschenden Titel „Auf der Straße“ trägt. Das Tiermotiv bildet also zugleich eine Alltagsbeobachtung und lässt auf humorvolle Weise die Gestaltenvielfalt anklingen, das Groteske und Allzumenschliche, das Bogouchevskaia in der Beobachtung von Passanten entdeckt.

Für diese Arbeit hat die Künstlerin lange Stunden vor den Scheiben des Aquariums im Berliner Zoo verbracht und sich jenen Fischen zugewandt, deren besondere Physiognomien sie an verschiedene menschliche Charaktere erinnert haben. Bogouchevskaias Vater, der Bildhauer Daniel Mitlianski, hat in seinem Text „Die Skulpturen meiner Tochter Anna“ (1999) diese „ganz eigene Sicht auf die Dinge dieser Welt“ treffend als „liebende Ironie“ bezeichnet, die der Betrachter hier wiederfinden kann. Zudem macht er darauf aufmerksam, dass sich eine gute von einer schlechten Skulptur dadurch unterscheidet, dass sie „um ein Vielfaches vergrößert werden kann“.

 

Und dieser Aspekt gilt sicherlich in besonderem Maße für die „Tropfen“, da die verschobenen Dimensionen der vielfachen Vergrößerung hier den Ausgangspunkt dieses Abenteuers der Form darstellen. In der Stauchung der Zeit und der Dehnung des Raums wendet sich Bogouchevskaia dem Wasser als der flüchtigsten der Naturformen zu, dem Inbegriff des Formlosen und Unfassbaren. Zweifellos eine bildhauerische Herausforderung und in seiner Kompliziertheit tatsächlich eine

„tödliche Arbeit“, wie Bogouchevskaia verrät. Einerseits, weil das Wasser und seine Bewegung so unwahrscheinliche, unwirkliche Gebilde mit ganz eigenen Proportionen und einer unmöglichen Statik erzeugt, die auf die Dynamik des Stoffs verweist, andererseits weil im Vergleich zu früheren Werken eine stärkere Abstraktion stattfindet. Aber lassen sich die „Tropfen“ überhaupt in die Dichotomie Konkretion – Abstraktion einordnen? Denn was auf den ersten Blick als abstrakte Form erscheint, entspringt ja gerade einem genaueren Hinsehen, einer Vertiefung in eine konkrete, naturalistische Formensprache, deren fremde Anmutung uns die Begrenztheit unserer Wahrnehmung zu Bewusstsein bringt.

 

Indem Anna Bogouchevskaia dem Gestaltlosen eine Gestalt verleiht, schöpft sie für uns aus dem Wasser die Lebendigkeit und Emotionalität, die ihr ganzes Schaffen durchzieht, und eröffnet mit leichter Hand den Blick auf ein allzu vertrautes und zugleich fremdes Element, das, wissenschaftlich gesehen, nicht nur der Ursprung des Lebens, sondern in der Philosophie des Vorsokratikers Thales von Milet sogar der Ursprung von allem ist.

 

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